Derinkuyu: Unterirdische Stadt der Antike

❂ Bis zu 85 Meter unter der anatolischen Ebene liegt die mysteriöse Höhlenstadt Derinkuyu in der asiatischen Türkei. ❂ Mit 445 Quadratkilometern ist sie die größte ausgegrabene unterirdische Stadt der Welt. Diese “Unterwelt” in der Region Kappadokien ist ein architektonisches Meisterwerk, das lange Zeit im Dunkeln verborgen lag. Bis es sich entschied, seine Geheimnisse preiszugeben…

In den verborgenen Tiefen in Zentralanatolien liegt Derinkuyu – eine ehemalige Siedlung mit Tunneln, Räumen und Gängen, die einst tief in die Erde eingegraben worden sind und die Jahrhunderte überdauert hat. Man stelle sich vor: Früher gab es 18 Tunnelebenen, die bis zu 20.000 Einwohner aufnehmen konnten.

Dass diese “geheimnisvolle Stadt unter der Stadt” existierte, war schon lange bekannt. Doch erst in jüngster Zeit, nämlich in den 60er-Jahren, kam das unter der Erdoberfläche schlummernde Mysterium endgültig ans Licht. Seither gehört Derinkuyu zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten Kappadokiens.

1985 wurde die nur 35 km südlich von Göreme gelegene Höhlenstadt in die Liste der UNESCO-Weltkulturerbestätten aufgenommen.


In Tuffstein gemeißelt

Die Region Kappadokien besteht überwiegend aus weichem Tuffstein bzw. vulkanischen Aschegestein. Dieser weiche, poröse Stein entsteht durch vulkanische Aktivität, bei der Asche und Lava miteinander verschmelzen. Er lässt sich auch mit einfachen Werkzeugen leicht bearbeiten und erleichterte den Bau von unterirdischen Höhlen und Tunneln – und sogar von ganzen Städten.

Begleiten Sie uns jetzt auf einer fesselnden Reise durch die verwinkelten Pfade von Derinkuyu, wo die archäologischen Überreste ein lebendiges Portrait einer vergangenen Ära zeichnen.


Im Schoß der Erde

Bis vor kurzem waren Ursprung und Zweck der Stadt weitgehend unklar. Nach Angaben des türkischen Kulturministeriums wurde die Stadt vor 2800 Jahren, im 8. Jahrhundert v. Chr., von den Phrygern erbaut. Später wurde Derinkuyu während der byzantinischen Ära erweitert, wahrscheinlich von Christen, die drohenden Verfolgungen entgehen wollten.

Die Menschen nutzten die “Stadt unter Tage” als perfektes Versteck.

Noch im 20. Jahrhundert wurde sie auch als Zufluchtsort während des Osmanischen Reiches genutzt.

Doch ab 1923, mit der Vertreibung der Christen durch die türkische Regierung, wurde die unterirdische Stadt aufgegeben und geriet nach und nach in Vergessenheit. Bis sich eines Tages einige Hühner in den Tiefen der Erde verirrten und somit Derinkuyus verborgene Geschichte wieder ans Licht brachten.


Derinkuyus antikes Erwachen

Die zufällige “Wiederentdeckung” der Höhlenstadt geht auf das Jahr 1963 zurück.

In der Tat hatte ein Einheimischer während der Renovierung seines Kellers bemerkt, dass seine Hühner durch einen Felsspalt entfleucht waren und danach nicht mehr auftauchten. Sie waren einfach verschwunden.

Neugierig geworden, und auf der Suche nach seinem Federvieh, entdeckte der überaus überraschte Mann den ersten Eingang (von insgesamt mehr als 600 anderen Eingängen), der zur unterirdischen Stadt von Derinkuyu führte.

Die Ausgrabungen begannen unmittelbar danach und brachten ein weitverzweigtes Netzwerk an unterirdischen Behausungen, Trockenfutterlagern, Viehställen, Schulen und Weingütern zum Vorschein. Sogar eine Kapelle gehörte zu dem historisch unfassbar wertvollen Fund.

Der Blick in die dunklen Hallen der Vergangenheit war eine Offenbarung: Eine ganze Zivilisation hatte einst hier unter der Erde gelebt. Versteckt hinter den dicken Mauern der Stille…


Besichtigung der Tunnelanlage

Acht Stockwerke wurden seit der Entdeckung der Tunnel freigelegt. Der tiefste Punkt, der heute noch zugänglich ist, liegt 55 Meter unter der Erdoberfläche.

Archäologen schätzen, dass bislang nur ein Viertel der ursprünglichen Anlage freigelegt wurde.

Seit ihrer Entdeckung wurden Teile von Derinkuyu für Touristen geöffnet. Bereits unmittelbar hinter dem Haupteingang befindet man sich im Tunnel-Labyrinth, das auf verschiedenen Ebenen angeordnet ist.

In den oberen Stockwerken lagen Schlaf- und Wohnräume, die unteren Etagen wurden zur Lagerung von Lebensmitteln und für Versammlungszwecke genutzt. Hier erfährt man auch von der strategischen Bedeutung des Tunnelsystems während der feindlichen Angriffe von anno dazumal. Die Gänge waren so konzipiert, dass potenzielle Angreifer gezwungen waren, sich hintereinander aufzustellen. Das war clever, denn dieses Konzept erschwerte den Einmarsch ungemein.

Die Luft in den Gängen ist kühl, und gut platzierte Lichtquellen betonen den mystischen, ja fast surrealen Charakter der gesamten Anlage. Über verschiedene Treppen gelangen wir auf immer neue Ebenen.

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie die Bewohner vor vielen Jahrhunderten in diesen unterirdischen Gängen gelebt haben, um sich vor feindlichen Angriffen zu schützen.


Zuflucht für 20.000 Menschen

Da und dort erkennen wir Steinbänke und rollende Verschlusssteine im Dämmerlicht. Mit diesen Felsbrocken wurden die Gänge und Portale “gesichert”.

Hier, rechts im Bild, ist einer von vielen großen Hinkelsteinen deutlich zu sehen. Allerdings fehlt uns die Vorstellungskraft, wie die damaligen “Höhlenbewohner” dieses kiloschwere Ungetüm aus Stein hin und her bewegen konnten.

Denn wie wir während unseres Rundgangs erfahren, konnten diese 450 kg schweren “maßgeschneiderten” Steintüren nur von innen geöffnet werden und mussten natürlich auch irgendwann wieder zurückgerollt werden.

Hier ebenfalls gut zu erkennen: Die strategisch gut platzierten Luftschächte an den Höhlendecken. Diese erfüllten gleich mehrere wichtige Funktionen, um die Lebensfähigkeit der Menschen in der unterirdischen Stadt zu gewährleisten.

Die notwendige Luftzirkulation war nicht nur für die Atemluft wichtig. Die Schächte dienten auch als Abzug von Rauch und Dämpfen im Kochbereich.

Genutzt wurden die Schächte auch für den Wassertransport. Einige erstreckten sich sogar bis zu einer Tiefe von 85 Metern, um das Grundwasser zu erreichen.

Über viele Jahrhunderte hinweg nutzten die Bewohner der Neustadt diese unterirdischen Brunnen als Quelle für ihre Wasserversorgung, ohne dabei auch nur im Geringsten zu ahnen, dass sie Teil eines riesigen und durchdachten unterirdischen Wohnkomplexes waren.

Die ganze Atmosphäre ist von einem geheimnisvollen Reiz durchdrungen, der einen gelegentlich erschauern lässt. Diese Szenerie wäre wirklich ein perfekter Drehort für Spielfilme à la Edgar Wallace, die in der Unterwelt spielen.

Wer hier, durch diese Höhlenräume wandert, kann nur fasziniert sein. Denn diese unterirdische Stadt in Anatolien erzählt die wahre Geschichte einer längst vergangenen Zivilisation, die von Jahrhunderten des Überlebens und der geheimen Widerstandskraft geprägt war. Aber auch von erstaunlicher Raffinesse und Klugheit, wie diese antike Höhlen-Architektur beweist.

Derinkuyu ist einer der wenigen Orte auf dieser Welt, an dem Vergangenheit und Gegenwart auf besonders interessante Weise miteinander verschmelzen.


© Text & Fotos: Jörg Baston. Redaktion: Nathalie Gütermann


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Information

*Neben Derinkuyu, der derzeit größten zugänglichen Anlage, werden in Kappadokien über 50 unterirdische Städte vermutet. 36 wurden bislang entdeckt, darunter Kaymaklı, und seit 2020 ganz neu, die unterirdische Stadt Midyat.

Bitte erkundigen Sie sich vorab, bevor Sie diese Anlagen besichtigen, denn nur die wenigsten der 3 Dutzend Tunnel-Städte unter der Erde wurden bislang der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.


Lage


Derinkuyu liegt in der Provinz Nevşehir, etwa 40 Kilometer südlich von Nevşehir-Stadt.


Gesundheits-Hinweis


Grundsätzlich gilt für Derinkuyu: Da es in den Höhlen nur wenig Beschilderung gibt, sollte man das verwinkelte, labyrinthische Netzwerk an Gängen und Räumen nur in Begleitung eines Führers besuchen. Auch sollte man physisch gut in Form sein, da man sehr steile Treppen hinauf- und hinuntergehen und enge Tunnel durchqueren muss.

Für Klaustrophober ist diese antike Höhlenstadt daher nicht zu empfehlen.


Öffnungszeiten


• April – Oktober: täglich außer feiertags 08-19 Uhr
• Oktober – April: täglich außer feiertags 08-17 Uhr
• Eintrittspreis: 25 TRY (ca. 5 €)