Tenganan: Dorf der Ausgewählten

Das abgeschiedene Bergdorf Tenganan wird von der Volksgruppe der Bali Aga bewohnt. Als Nachfahren der Altbalinesen, die auf Bali lebten, bevor im 11. Jahrhundert die hinduistischen Majapahit eintrafen, sind die Bali Aga stolz auf ihre Herkunft, die sie direkt auf den Gott Indra zurückführen. Sie sehen sich selbst als „Auserwählte“ und bewahren ihre vorhinduistischen Glaubensvorstellungen, Gesetze und Traditionen mit strikter Selbstisolation, der sich jeder Dorfbewohner unterwerfen muss.

Eines der wichtigsten Gebote der Bali Aga ist die Endogamie – die Heirat darf nur innerhalb der Dorfgemeinschaft erfolgen. Eine Ehe mit jemandem von außerhalb führt zum Ausschluss aus der Gemeinschaft. Auch Fremden ist es nicht gestattet, sich nach Einbruch der Dunkelheit im Dorf aufzuhalten. Aufgrund dieser strengen Regeln schrumpft die Gemeinschaft, die nur noch aus etwa 300 Menschen besteht.


Dorfstruktur

Besucher dürfen inzwischen tagsüber gegen eine Spende ins Dorf kommen, doch abends wird der Ort verschlossen, und die Dorfbewohner leben wieder unter sich.

Diese Isolation spiegelt sich auch in der Bauweise wider: Tenganan ist das einzige Dorf Balis, das vollständig von einer Mauer umgeben ist, die nur vier Tore als Ein- und Ausgänge besitzt.

Die Häuser und Gehöfte stehen dicht beieinander entlang der ansteigenden Dorfstraße. Viele Gebäude haben traditionelle Dächer und Veranden, und eine kleine Treppe führt zu jedem Haus, das immer einen kleinen Hof besitzt.

Im Zentrum des Dorfes befinden sich die Gemeinschaftsräume und eine langgestreckte, halboffene Versammlungshalle, in der der Dorfrat regelmäßig tagt.


Landwirtschaft

Tenganans Bewohner sind vergleichsweise wohlhabend, da sie Land und Vieh besitzen.

Das Gebiet des Dorfes umfasst etwa 859 Hektar, die nach der Tradition der Bali Aga gemeinschaftlich verwaltet werden. Die Landschaft besteht aus Reisfeldern, durchsetzt mit Bananenstauden, Kokospalmen und Gemüsefeldern, mit der eindrucksvollen Silhouette des heiligen Vulkans Gunung Agung im Hintergrund.

Die Felder selbst werden von balinesischen Bauern bewirtschaftet, die nicht im Dorf leben und als Lohn einen Teil der Ernte erhalten. Die Bali Aga betrachten sich als „Auserwählte“ und sehen sich eher als Künstler und Bewahrer ihrer Religion denn als Landarbeiter. Diese Lebensweise verschafft ihnen ein stabiles Einkommen und ausreichend Zeit, um sich ihren Traditionen und dem Kunsthandwerk zu widmen.


Kunsthandwerk

Die Lontarschrift ist ein besonderes Kunsthandwerk in Tenganan. Dabei wird mit einer Metallfeder eine Gravur in getrocknete Lontar-Palmenblätter geritzt, die anschließend mit Ruß eingerieben wird, um die Schrift sichtbar zu machen.

Eine der bedeutendsten traditionellen Handwerkskünste in Tenganan ist jedoch die Herstellung von “Gringsing” – einem Stoff, der durch eine äußerst aufwendige Doppelikat-Webtechnik in Handarbeit gefertigt wird. Dieses einzigartige Handwebverfahren wird heute ausschließlich in Tenganan praktiziert. Die heiligen Stoffe sind meist nicht für den Verkauf an Touristen bestimmt, sondern werden für den Eigenbedarf oder religiöse Zeremonien hergestellt.


Rituelle Hahnenkämpfe

Hahnenkämpfe, die ausschließlich zur Unterhaltung und für Wetteinsätze durchgeführt werden, sind auf Bali weitgehend verboten und daher stark zurückgegangen. Reisende haben nur noch selten die Gelegenheit, solche Kämpfe mitzuerleben.

Der rituelle Hahnenkampf hingegen, als Teil von Tempel- und Opferritualen, ist weiterhin erlaubt. Diese Kämpfe finden meist in einer speziell vorbereiteten Arena, dem sogenannten Wantilan, statt. Dabei treten zwei Hähne gegeneinander an, bis einer so schwer verletzt ist, dass er nicht mehr kämpfen kann oder stirbt. Überlebende, unterlegene Hähne werden oft freigelassen und dürfen ihren Lebensabend friedlich im Dorf mit den Hühnern verbringen.

In Tenganan werden die Kampfhähne oft in Käfigen vor den Häusern gehalten. Die Kämpfe selbst finden meist außerhalb des Dorfes statt. Aus Belustigung und ästhetischen Gründen werden die Hähne dabei häufig bunt gefärbt.


Fazit

Die anachronistisch wirkende Selbstisolation des Dorfes Tenganan, verbunden mit den strengen Traditionen der Endogamie, sorgt einerseits für eine natürliche Geburtenkontrolle und trägt dazu bei, den Wohlstand aus Landwirtschaft und Handwerk auf einem konstanten Niveau zu halten.

Andererseits fördert diese Isolation jedoch auch eine gewisse Degeneration. Es ist daher nicht überraschend, dass dieses Dorf der “Auserwählten” allmählich schrumpft. Auf uns wirkte dieses aus der Zeit gefallene Dorf eher wie ein Freilichtmuseum als eine lebendige Gemeinschaft. Ein Besuch ist jedoch, gerade wegen seiner Einzigartigkeit, in jedem Fall empfehlenswert.


© Text & Fotos: Jörg Baston